11.5.09

57. Lebenserwartung von Behinderten

Im folgenden Blog möchte ich gerne eine Thematik anschneiden, die mich sehr betrifft und - sehr wahrscheinlich - Hauptverantwortliche für den grössten Teil meiner persönlichen Diskriminationsakten ist. Es geht nämlich um die durchschnittliche Lebenserwartung von FA-Kandidaten.
Im Zeitalter des Internets, seit den 1990er-Jahren, werden Angaben über bestimmte durchschnittliche Lebenserwartungen einem breiten Publikum zugänglich gemacht. Meiner Meinung nach ist dies ein Problem an sich: Denn bei weitem nicht alle Leser dieser Information sind im Stande sie richtig zu interpretieren. Dazu bedarf es einer minimalen Ausbildung in Statistik. Rein mathematisch verhält sich die Sache folgendermassen: Jeder beliebige Durchschnittswert - sei es ein durchschnittlicher Wert über die Ejakulationsdauer von Brillenträgern oder die durchschnittliche Pimmellänge von Südschweden - enthält keine aber auch gar keine Aussage über den Einzelfall.
Erwähnen möchte ich eine sich stets nach dem gleichen Muster abspielende Begegnung mit einem Bekannten. Jedes Mal wenn ich ihn sehe, fragt er mich mit fast weinendem Auge und leiser fast verschwindender Stimme wie es mir gehe. Meistens gebe ich ihm auf diese Frage eine positive Antwort, denn meistens geht es mir tatsächlich gut. Diese Antwort scheint P. gar nicht zu passen: Er reagiert beleidigt und will möglichst bald aus meiner Gegenwart verschwinden. Meine Anwesenheit wird ihm unerträglich und es scheint ihm Zufriedenheit zu geben, wenn ich - endlich, endlich - verschwinde.
Wieso dieses Verhalten?
Offenbar war auch er ein Internetleser der oben genannten Information und sehr wahrscheinlich - um nicht zu sagen: Mit Sicherheit - unfähig sie richtig zu interpretieren. Dementsprechend ist er der Meinung, dass ich mit meinen 35 Jahren eigentlich schon lange Tot sein oder wenigstens im Sterben liegen sollte. Dies verunsichert ihn und macht einen entspannten Umgang zwischen uns praktisch unmöglich. Wobei ich selbstverständlich anfügen möchte, dass er keineswegs - wie so oft in solchen Fällen - ein böser Mensch ist. Seine unmögliche Reaktion auf meine Anwesenheit ruht in seiner Unsicherheit und seiner statistischen Ignoranz. Sein Verhalten ist - so mühsam ich es auch finde - menschlich, allzu menschlich!
Ähnliche Geschichten erlebe ich immer wieder. Ein krasser Fall, der mir gerade in den Sinn kommt, ist jene bizarre Szene mit dem Berufsfinder in Nottwil: Auch dieser Mensch hatte mit Sicherheit diese Information bezüglich der durchschnittlichen Lebenserwartung von FA-Leuten mitbekommen. Und auch diese Person war unfähig diese Angaben richtig zu interpretieren.
Ich möchte an dieser Stelle auf eine bereits in den 1950er-Jahren erschienenen Schrift von Thomas Szasz verweisen. Er wies richtig auf die Simulation bzw. Fehlinterpretation von Diagnosen hin. Laut Szasz ist schon die Diagnose bzw. das hervorrufen von interpretativen Spekulationen ein grosses Verbrechen gegen die Menschlichkeit. Dieser Meinung bin auch ich, meine persönliche Diagnose existiert nicht. Falls man unbedingt meiner Behinderung einen Namen geben will, so lautet er: Behinderung + x² + ¾y - z³.