3.6.10

77. Nietzsche als behinderter Tourist im Engadin

Nachfolgend möchte ich eine weitere Kolumne, die in der Engadiner-post erschienen ist, veröffentlichen. Zu diesem Thema habe ich einen längeren Aufsatz geschrieben, ich möchte ihn später einmal präsentieren.
Sils-Maria
Hier saß ich, wartend, wartend, — doch auf Nichts,
Jenseits von Gut und Böse, bald des Lichts
Genießend, bald des Schattens, ganz nur Spiel,
Ganz See, ganz Mittag, ganz Zeit ohne Ziel.

Da, plötzlich, Freundin! wurde Eins zu Zwei —
— Und Zarathustra ging an mir vorbei ...
Friedrich Nietzsche

Diese Kolumne möchte ich einem der ersten und gleichzeitig prominentesten Engadiner Touristen gegen Ende des neunzehnten Jahrhunderts widmen. Die Rede ist von einem der begabtesten deutschsprachigen - dem als Philosophen bekannten - Schriftsteller und Dichter Friedrich Nietzsche. An einer progressiven Behinderung leidend, konnte er seine grossartigen Gedanken nur dank persönlicher Assistenz zu Papier bringen.
Nietzsche gilt heute in allen Geisteswissenschaften als absolute Autorität: Ein Nietzsche-Zitat genügt, um ein Buch oder eine Aussage zu disqualifizieren oder zu bestätigen.
Die bedeutendsten seiner prophetischen Bücher entstanden in den 1880er Jahren in Sils-Maria, wohin er sich nach seiner Emeritierung von seiner Basler Professur in den Sommermonaten zur Erholung, Inspiration und schriftstellerischen Tätigkeit zurückzog.
Was dachte der Philosoph über mein Thema: Behinderung? Hat er sich jemals dazu geäussert? Ja, in sehr abschätzigem Ton! Es ist richtig, dass Nietzsche in mehreren Schriften als behindertenfeindlich angesehen werden kann: Er prägte verschiedene Entwicklungen der Behindertenphobie massgebend. Dies trifft in seiner eigenen Biographie nicht zu: Spätestens seit 1879 war er selber behindert. Nietzsche trug seine Behinderungen mit beispielhafter Bravur. So lebte er in den letzten 20 Jahren seines Lebens mit persönlicher Assistenz. Es ist anzunehmen, dass genau dieser Umstand, dass er nämlich selber behindert war (seine Behinderung aber nie annehmen konnte), ihn zum Behindertenfeind gemacht hat.
Bereits mit 24 Jahren wurde er als Professor für Altphilologie an die Universität Basel berufen. Schon nach kurzer Lehrtätigkeit sah sich Nietzsche gezwungen, seinen Job aufzugeben: Einerseits interessierte er sich mehr für Philosophie, andererseits fühlte er sich aus gesundheitlichen Gründen nicht mehr im Stande seinen Lehrauftrag zu erfüllen. Nach seiner Pensionierung im jungen Alter von 35 Jahren suchte er sich verschiedene Domizile aus, die sein Herz besonders ansprachen - darunter eben das Engadin - und reiste von einem Ort zum Anderen. Besonders seine progressive Sehschwäche – zeitweilig war er vollkommen blind – und seine möglicherweise damit zusammenhängenden massiven Kopfschmerzen zwangen ihn sehr bald ständig einen persönlichen Assistenten, er nannte ihn Privatsekretär, überall hin mitzunehmen. Dieser verfügte über Fähigkeiten, die Nietzsche besonders schätzte und welche die Vollendung seiner Werke überhaupt erst ermöglichten: so hatte Heinrich Köselitz – Nietzsche nannte ihn Peter Gast – eine besonders schöne, lesbare Handschrift. Er war Berufsmusiker und konnte dem Musikliebhaber Nietzsche so auf Wunsch auch vorspielen. Eine der wichtigsten Aufgaben des Assistenten war das Vorlesen seiner Lektüre. Er hatte sich im zweiten Studium mit Philosophie und besonders mit seinem hochverehrten Nietzsche beschäftigt. Ohne die Assistenz von Peter Gast wären Nietzsches Werke wohl kaum entstanden.
Was die genaue medizinische Ursache seiner Behinderung war ist unklar. Ob er – wie oft behauptet – tatsächlich seit einem Prostituiertenbesuch an der Geschlechtskrankheit Lues litt, ist nicht erwiesen, aber möglich.
Was hingegen aus seinen Schriften klar hervor geht: er war in den Alltagsverrichtungen stark eingeschränkt, und würde somit heute als Behinderter bezeichnet. Er selber hätte sich niemals so bezeichnet. Für alle Behinderten bedeutet es heute noch ein grosser Schritt, der immense Überwindung erfordert, um sich als das zu erkennen und zu akzeptieren, was sie in Wahrheit sind: Menschen mit einer Behinderung.

Erst in seiner Autobiografie gab er zu, doch nur ein Mensch zu sein (Ecce homo).

Vor rund 130 Jahren verfügte der berühmte ehemalige Basler Professor – und somit verhältnismässig Wohlhabende- über die Form der Unterstützung, die schwerbehinderte Menschen in der Schweiz erst mit der 6. IV-Revision auch erhalten sollen: die Möglichkeit für alle, die Assistenz benötigen (und nicht nur für wohlhabende Ex-Dozenten), eine persönliche Hilfskraft anzustellen. Kurz: Am Fall Nietzsche kann man deutlich erkennen, zu welchen Leistungen Behinderte im Stande sind: wenn sie nur die Möglichkeit dazu erhalten.

Gisep Buchli

3 Kommentare:

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