3.3.08

36. Herrmann der Lahme

Als Paradebeispiel eines Vertreters des Fin de Siècle beschrieb der Münchner Historiker Friedrich Wilhelm von Giesebrecht im Jahr 1875 Hermann den Lahmen wie folgt:
„Verkrüppelt, gichtbrüchig, auch mit der Sprache behindert, ergab er sich, von dem weltlichen Leben ausgeschlossen, ganz dem Studium... Auf seinen Sessel gebannt, konnte Hermann nur mitteilen, was er in den Büchern fand oder was die Fama ihm zuführte; besonders verließ er sich auf die Bücher und hat selbst bei den ihm gleich­zeitigen Begebenheiten sie vor allem benutzt.“
Im gleichen Jahr beschreibt der Pfarrer, engagierte Lokalpolitiker und laienhafte Heimatforscher Heinrich Hansjakob in Hagenau Hermann den Lahmen als „leidenschaftlichen Zeitgenossen und Zeitkritiker“. Er habe sich zu den akuten Fragen der Zeit eine begründete Meinung erarbeitet, „zwar mit Hilfe gelehrter Tugenden, wie Belesenheit und Genauigkeit, aber nicht um ihretwillen, sondern angeregt von Gemeinschaften seiner engeren Heimat – seine gräfische Herkunft aus der nördlichen Bodenseeregion und besonders sein Mönchskonvent auf der Insel Reichenau“. Hermann wurde ein großer Gelehrter – so Hansjakob – „wenn er über intellektuelle Kenntnisse hinaus zur moralischen Wirkung strebte und seine sinnliche Überzeugung standfest vertrat“.
Heute wird kaum von jemandem bezweifelt, dass Hermann der Lahme „einer der größten Gelehrten des Mittelalters“ war, und dass er „das beste Geschichtsbuch des 11. Jahrhunderts verfasste“. Gegenwärtig wird nicht nur der Umstand besonders hervorgehoben, dass er besonders schwer „behindert“ war, sondern auch seine Leistungen – nicht nur zur Geschichtsschreibung, sondern auch zur Computistik – werden gewürdigt.
Hermann der Lahme, von klein auf spastisch gelähmt, geboren 1013 und gestorben 1054, wurde von seinen Zeitgenossen respektiert und geliebt. Schon zu Lebzeiten wurde er als Heiliger verehrt. Er gilt noch heute als ein großer Dichter und Musiker, und seine Lieder werden zum Teil noch heute gesungen. Außerdem beschäftigte er sich eingehend mit Musik, Astronomie, Mechanik und Mathematik. Sein bekanntestes Werk ist das Chronicon, eine von Christi Geburt bis Mitte 1054 reichende Weltchronik in Form von Annalen, die erste genaue Chronographie seit der Antike. Mönche, Päpste, Fürsten und Kaiser bewunderten ihn. Er wurde mit der höchsten Ehrenmedaille ausgezeichnet, die das Mittelalter zu vergeben hatte: Er wurde kurz nach seinem Tod heilig gesprochen und im Petersdom begraben. Sein Schüler Berthold, der ihn als „ grossen Held“ und „hervorragenden Mann und Lehrer“ bezeichnet, schreibt Folgendes über ihn:
„Seine Glieder waren auf so grausame Weise versteift, dass er sich von der Stelle, an die man ihn setzte, nicht wegbewegen, nicht einmal auf die andere Seite drehen konnte. Obwohl er auch an Mund, Zunge und Lippe gelähmt war und nur gebrochene und schwer verständliche Worte langsam hervorbringen konnte, war er seinen Schülern ein beredter und eifriger Lehrer, munter und heiter in der Rede, in der Gegenrede äußerst schlagfertig, zur Beantwortung von Fragen immer bereit. Stets glaubte dieser Mensch ohne Tadel, sich alle Fähigkeiten aneignen zu müssen, ob er nun mit seinen ebenfalls gekrümmten Fingern etwas Neues aufschrieb, ob er für sich oder mit andern etwas Geschriebenes las, oder ob er sich mit ganzer Anspannung an irgendeine nützliche oder notwendige Arbeit machte. …Keiner verstand wie er, Uhren zu machen, Musikinstrumente zu bauen, mechanische Arbeiten auszuführen. Mit diesen und vielen andern Dingen, deren Aufzählung zu lange dauern würde, beschäftigte er sich ständig, soweit es überhaupt sein schwacher Körper zuließ.“
Wie seinen Schülern, wäre im Mittelalter niemandem in den Sinn gekommen, den schwerbehinderten Hermannus als krank zu bezeichnen, ihn für das ganze Leben in einem Asyl einzusperren oder gar der „Euthanasie“ preiszugeben. Im Gegensatz dazu zerbrach man sich Mitte des 20. Jahrhunderts den Kopf darüber, welche Krankheit er wohl gehabt habe.